Ich durfte in der letzten Woche zweieinhalb Tage als Gast an dem Projektworkshop des STRENGTH-Projekts teilnehmen, eingeladen durch Prof. Dr. Köhler vom Projektpartner CODIP in Dresden. Im Workshop wurden innovative Methoden zur digitalen Kompetenzentwicklung für Migrantinnen vorgestellt. Der Fokus lag auf gezielter Mediennutzung, Selbstlernen und Zusammenarbeit. Besonders spannend war das LASLLIAM-Konzept für Literalität in der Zweitsprache, das ein organisches Bild von Kompetenzen fördert.
Inspiration aus einem herausfordernden Feld
Es war erfrischend und inspirierend, mehr über die Praxis von Trainerinnen zu erfahren, die im komplexen Feld der Beratung und Weiterbildung von Migrantinnen – neben vielem anderen – auch digitale Kompetenzentwicklung umsetzen. Die Haltung der Trainerinnen gegenüber digitalen Medien ist einerseits vorsichtig und reflexiv. Weniger stark als im Hochschulkontext, geht es hier nicht darum, Bildungstechnologie explorativ einzusetzen. Der Schwerpunkt liegt vielmehr darauf, wie die Zielgruppen bestmöglich unterstützt werden können, ihren Platz in der neuen Lebensumgebung zu finden. Sprache und Literalität sind hierfür zentrale Themen. Weiterhin sind in diesem Bildungsbereich praktische Lebenshilfe, Vertrauen und Selbstvertrauen zentrale Ressourcen.
Digitale Bildung, reflektiert
Das heißt, digitale Medien werden sehr überlegt und immer auch im Hinblick auf Zugänglichkeit und etwaiges „Verhinderungspotenzial“ eingesetzt. Dann können die digitalen Möglichkeiten, wie zu sehen war, viel Nutzen stiften. Gerade die Möglichkeiten, mit Foto, Audio und Visualisierung zu arbeiten, bieten großes Potenzial. Kleine Übungen in Form von Multiple-Choice-Aufgaben, Zuordnungsaufgaben und Hot-Spot-Varianten schaffen geschützte und fehlertolerante Möglichkeiten, Alltagsherausforderungen zu antizipieren und einzuüben: Wie frage ich, ob der Platz im Zug noch frei ist? Wie reagiere ich, wenn ich im Restaurant als „Kundin zweiter Klasse“ behandelt werde? Was sind die wichtigsten Begriffe beim Arztbesuch? Multikodierung und Multimodalität können hier richtig nutzbringend eingesetzt werden, aber die Innovation macht der kluge Content.
Darüber hinaus kommen für die spezifischen Anforderungen dieser Bildungsarbeit Prinzipien und Methoden zum Einsatz, die aus der digitalen Hochschulbildung bekannt sein sollten: Lernendenzentrierung als Erweiterung instruktionaler Ansätze, Begleitung und Hinführung zum Selbstlernen sowie Zusammenarbeit als Alternative zum Einzelstudium. Die Ansätze der Stärkenorientierung und der Ermöglichungsdidaktik lassen sich hier wiedererkennen.
Spannend: LASLLIAM-Modell für Sprachkompetenzen
Besonders spannend für mich, weil bislang unbekannt, war das LASLLIAM-Konzept1 literaler Kompetenzen, das spezifisch für die Entwicklung von Literalität in einer Zweitsprache entwickelt wurde. Es wurde uns von den Kolleginnen vom Orient-Express (Wien) theoretisch und praktisch vorgestellt.“
Die Präsentation des Konzepts hat bei mir gute Assoziationen geweckt. Dazu gehören:
- Kompetenzen werden nicht in ein hierarchisches, pyramidales oder anders geschichtetes Bausteinmodell gegliedert, sondern das Modell lässt Raum für ein organischeres Bild von Kompetenzen, die eher als Bündel oder Knäuel von Fertigkeiten und Kenntnissen in Erscheinung treten. Sie entwickeln sich nicht linear, sondern haben ihre Ups and Downs.
- Es betont die Rolle der Materialität digitaler Medien, wenn es beispielsweise darum geht, einen Touchscreen zu bedienen oder die Hand-Auge-Koordination für die Bedienung einer Maus zu üben.
In dem für mich ungewohnten Kontext ist mir einmal mehr aufgefallen, dass meine eigene mediale Alltagskultur voraussetzungsreich ist und eine spezifische Sichtweise auf digitale Medien als „hilfreich“ und „erfahrungserweiternd“ – kurz: als „nützliche Werkzeuge“ – beinhaltet. Dieses techno-optimistische Narrativ bricht, so mein Eindruck, momentan an vielen Orten auf. Das mag daran liegen, dass die Wellen digitaler Transformation den Eindruck einer Gesellschaft hinterlassen, die mindestens ebenso ungerecht, ungleichzeitig und unklug erscheint wie zuvor. Dass hier die Dimension digitaler Literalität hinzugekommen ist, macht es nicht einfacher.
- Literacy and Second Language Learning for the Linguistic Integration of Adult Migrants, https://www.coe.int/de/web/lang-migrants [↩]