Das Digitalsemester an den deutschen Hochschulen
In den Hochschulen und Universitäten läuft in diesen Tagen das historisch erste online-Semester in Deutschland mit einem (nahezu) vollständig digitalen Lehrbetrieb an. Die meisten Hochschulen werden ab dem 20.04. mit dem Großexperiment starten. Der Ausgang ist ungewiss.
In meinem Arbeitsbereich an der Universität Potsdam deutete sich diese Situation vor fünf Wochen zum ersten Mal an. Seitdem beschleunigten sich die Ereignisse in der bekannten Weise und inzwischen fliegen die Home-Office-Tage an mir vorbei so dass sich die Freitage wie der Feierabend nach einem 120h-Arbeitstag anfühlen.
Wir haben mit einem unglaublichem Einsatz des ganzen Teams und darüber hinaus, unter Bedingungen von Homeoffice einschließlich hapernder Internetverbindungen (in Berlin, nicht in Moskau), Schul- und Kita-Schließung und angespannter Versorgungslage in drei Wochen die ganze Support- und Wissensstruktur der Universität Potsam in Sachen E-Learning konzentriert in Form gebracht um den Lehrenden den bestmöglichen Einstieg zu ermöglichen. Gleichzeitig befassen wir uns mit Webkonferenzsystemen (und ja: Es ist ZOOM geworden), Rechtsfragen, Prüfungsordnungen und didaktischen Szenarien.
Dabei machen wir glaube ich einen ähnlichen Prozess durch, den viele E-Learning-Einrichtungen und -projekte gerade erleben: Vom Zusammenstellen von vorhandenen Informationen (Webseite) zu strukturierten Angeboten (Screencast, Leifäden) zum organisieren von direkten Austausch und Community-Building (Webinare, Foren). Mit einem eindeutigen Verlauf vom technischen Basiswissen hin zur mediendidaktischen Szenarioentwicklung. Vorläufiger Höhepunkte waren zwei Webinare, die wir letzte Woche angeboten haben und die mit insgesamt über 200 Teilnehmenden aus der Universität Potsdam auch für uns eine historische Dimension erreichten.
Disruptiver Fortschritt I: „Erstens kommt es anders…“
Verrückt ist es schon, wenn sich Entwicklungen, die wir seit Jahren verfolgen über Nacht und aus kontingenten Gründen in Gang setzen. Weniger schön ist es, dass diese Entwicklung in den allermeisten Fällen mit einer Überforderung einhergeht und zwar auf technischer, organisatorischer, didaktischer und kommunikativer Ebene der Hochschulen. Michael Kerres hat das in Bezug zur Aufstellung der Hochschulen zurückhaltend als „denkbar ungünstige Voraussetzungen“ für den jetzt einsetzenden digitalen Umbruch in den Hochschulen und Schulen zusammengefasst.
Mir selber geht es in jedem Fall eher so, wie es Michael Kerres im Eingangsstatemtent seines Videobeitrags berichtet. Es sind eher ambivalente Gefühle und bestimmt keine „Aufbruchstimmung“ von der Michael Jäckel im HFD-Dossier berichtet.
Das Online-Semester (und vermutlich auch kein Kreativ- oder Innovationssemester) wird auf keinen Fall retten können, was der Virus anrichtet. Diese Botschaft wäre die wichtigste. Was geschehen wird ist eine Art Notbehelf, von dem sich alle wünschen werden, dass dieser möglichst bald nicht mehr benötigt wird.
Verrückt ist es aber auch, dass sich der Veränderungsdruck, den wir selber beständig begründet haben (1990: „Die neuen didaktischen Möglichkeiten müssen genutzt werden.“ – 2000: „Die Organisation muss sich weiterentwickeln.“ – 2010: „Die Digitalisierung ändert alles.“) mit einem Schlag zu einer direkten Handlungsaufforderung an alle Hochschullehrenden und Hochschulangehörigen transformiert.
Dass kann zwei Dinge bedeuten: Entweder die Begründung spielt für die Umsetzung der Ziele keine große Rolle, also die Begründungen wechseln, das Ziel bleibt das gleiche. Oder aber es verändern sich mit den Begründungen auch die Ziele. Letzteres scheint mir die zutreffendere Beschreibung der Situation. Es würde sich die skeptische Schlussfolgerung anbieten, das dass was gerade an den Hochschulen geschieht, „irgendwas“ ist aber keine „Digitalisierung der Bildung“ – Connection Error.
Disruptiver Fortschritt II: „…und zweitens als man denkt!“
Es gibt allerdings noch eine dritte Möglichkeit und auch diese ist nicht unwahrscheinlich. Es würde bedeuten, dass sich mit der jetzigen Situation auch das wandelt, was wir unter „Digitalisierung der Bildung“ bisher verstanden haben. Disruption, so wie ich sie verstehe, bedeutet auch, dass ein neues Phänomen sich nicht mehr an den alten Maßstäben abbilden lässt. Wichtig und richtig sind jetzt daher vor allem auch die Aufforderungen und Berichte zum „Kreativ- und Experimentiersemester“, zu einem improvisationsfreudigem, fehlertoleranten Umgang mit der Situation, zum Beginn einer „steilen Lernkurve„.
Wenn wir die Pandemie als Situation begreifen, in der wir dazu lernen müssen – und das steht außer Frage denke ich – lässt sich die spannende Frage mit den lerntheoretischen Begriffen von Klaus Holzkamp als Ambivalenz von „expansiven Lernen“ und „defensiven Lernen“ beschreiben. In ersterem Fall entwickelt sich aus der Notwendigkeit der Anpassung an eine neue Situation ein Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten. Im zweiten Fall entwickelt sich aus dem Handlungsdruck die Fähigkeit die Bedrohung erfolgreich abzuwehren. Wesentlich ist aber in dem Modell, dass beide „Lernstrategien“ vom Standpunkt des Subjekts aus gesehen „gut begründet“ sind und Sinn machen.
Es sind die umgebenden Begündungszusammenhänge und Deutungsmuster, die darauf Einfluss nehmen, in welchem Verhältnis sich expansives und defensives Lernen ausbalancieren. In der Konsequenz hieße das im Grunde genommen, die Möglichkeiten der Online-Lehre über die „Bereitstellung von Lehre“ hinaus gerade jetzt nicht nur zu thematisieren sondern dafür langfristige Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese Forderung ist im herrschenden Notbetrieb und angesichts der erklecklichen aktuellen „sonstigen“ Anforderungen an die Hochschule leider nicht sehr aussichtsreich.
Don’t Waste a Crisis?
Ich habe nicht nur die feste Erwartung, dass das Experiment „Online-Semester“ zu widersprüchlichen, befremdlichen Ergebnissen führen wird, ich mache auch augenblicklich derlei Erfahrungen. Erstaunlich ist es bespielsweise immer noch wie unglaublich unterschiedlich das Wissen um die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Online-Lehre verteilt ist und zwar quer durch alle Statusgruppen der Universität. Ich erlebe erfahrende Lehrende, die bass erstaunt sind angesichts der Nachricht, dass asynchrone Online-Lehre ein Mittel der Wahl ist: Sie sind davon ausgegangen, dass sie nach dem 20.04. einfach die Videokonferenz anschalten und mit dem Seminar starten.
Nichts von dem, was jetzt eigentlich passieren müsste, um die Online-Lehre gleichzeitg massenhaft zu implementieren und die Digitalsierung der Lehre im besten Sinne (im Organisationssinn) voran zu bringen scheint allerdings augenblicklich handfest. Wir sind mitten in einer unentschiedenen Entwicklung, die widersprüchliche Anforderungen generiert. Lehrende benötigten jetzt gleichzeitig und auf der Stelle technisches und pädagogisches Detail- und Orientierungswissen. Das macht es eigentlich unmöglich hier eine gute Balance zwischen der realen Komplexität der Sache und dem „leichten Einstieg“ zu gestalten. Hält man sich an einfache Medienfunktions-Methaphern läuft es auf eine technologische Notlösung für das „Lehrangebot“ hinaus, das am Ende vermutlich Studierende wie Lehrende frustrieren wird. Der Zwang zu Reduktion und Vereinfachung ist übermächtig, beim gleichzeitigen Wissen darum, wie unzulänglich das ist, gemessen an unseren Zielen.
Das bedeutet aber dann auch, die eigenen Ziele, Erkenntnisse und Vorgehensweisen kritisch zu befragen. Schließlich ist einerseits nicht „alles anders“ insbesondere die Grundsätze guter Online-Lehre ändern sich nicht, sondern gewinnen ja an Bedeutung. Auf der anderen Seite ist es eine vielleicht naive Vorstellung, die Idee der Online-Lehre selber würde nicht auch – gerade jetzt – einem Wandel unterliegen. Wird diese – wie wir das jetzt unter Extrembedingungen ausprobieren müssen – zu einem wirklich tragendem Element der Lehrwirklichkeit ändert sich auch das gesamte „Ökosystem der digitalen Lehre“ an den Hochschulen, einschließlich der je eigenen Positionen und Rollen in Bezug auf die Digitalisierung der Lehre. Wie das genau aussieht wird sich in den nächsten Wochen und Monaten beobachten lassen.