Wie schnell die Zeit vergeht… am 30.11.2022 erlebten wir den „iPhone-Moment der KI“. Mir gefällt der Vergleich zum iPhone in diesem Zusammenhang gut. Mit dem iPhone gemeinsam hat ChatGPT die Melange aus cleveren Design plus massiver Finanzpower, Kontinuität der Digitalisierung plus technologischen Entwicklungssprüngen sowie Anschlussfähigkeit an sozialkulturellen Dystopismus plus Aufforderung an den technophilen Spieltrieb.
Es gäbe unendlich viel zu sagen darüber, was im Zusammenhang mit dem Chatbot im letzten Jahr geschehen ist. Ich versuche, mich knapp zu halten und auf die häufigsten Fragen Antwortvorschläge zu machen.

1. Was brauchen Hochschullehrende?

Lehrende werden sich vermehrt und tiefgehender mit KI, Large Language Modellen (LLMs) und deren Bedeutung für das wissenschaftliche Schreiben auseinander setzen müssen. Die Möglichkeiten dafür wachsen. Handreichungen, Empfehlungen und Praxisberichte werden schon vielfach zusammengestellt und kuratiert. In Webinaren werden Expert:innen-Inputs und Diskussion angeboten. Bemerkenswert ist, dass vielfach von Anfang an auf Austausch und Vernetzung der Praktiker:innen in den Fachwissenschaften gesetzt wird.

2. Was sollen Hochschulen und Bildungspolitik machen?

Hochschulen und Bildungspolitik müssten nun Wege ebnen, KI-Technologie für alle Hochschulangehörigen für Exploration, Experimentieren und Nutzung zur Verfügung zu stellen. Auch aus kleinen Lösungen können sich produktive Experimentierräume für KI in der Bildung entwickeln. Den Unterstützer:innen aus Hochschul- und Mediendidaktik sowie der Hochschulentwicklung sollte es Aufgabe sein, neben Information auch Orientierung anzubieten.

3. Was wird aus der Hochschulbildung?

Die Kernaufgaben von Bildung (im emphatischen, sog. „Humboldtschen“ Sinn), werden (wie immer) erhalten bleiben. Das Ideal bleiben die mündigen Bürger:innen, die als teilhabende, allseitig entwickelte Persönlichkeiten ihr Fachwissen kommunikativ, kooperative, kreativ und kritisch entwickeln und nutzen. Die Ankunft der KI erfordert jedoch, dass neue Inhalte, entwickelt und integriert werden. Grund- und Fachwissen, Handlungskompetenzen und berufliche Orientierungen der Hochschule müssen mit Bezug auf KI überprüft und erweitert werden. Entscheidend ist dabei, dass nichts ausgespart wird und keine Unantastbarkeiten existieren. Das gilt insbesondere eben für die Funktion und Perspektive der Textproduktion.

4. Woran Orientieren?

Die schlichte Antwort lautet: An der Qualität. In den Vorträgen von bspw. Anika Limburg oder Doris Weßels – aber auch anderen – scheint immer eine Achse auf, auf der der Einsatz von KI zwischen technikdominierten „Lernen vermeiden“ über „Entlastung“ zur operativen „Ko-Kreation“ beim Arbeiten mit KI reicht. Die Lackmusfrage lautet: Wer oder was steuert den Prozess? Die Aufgabe ist es, gegen das Vermeidungsverhalten gegenzusteuern. Die zweite Botschaft ist, dass gutes ko-kreatives Arbeiten mit KI die Qualität der Ergebnisse stark erhöht – den Aufwand aber auch. Gleiches dürfte übrigens auch beim Einsatz für die Lehre durch Lehrende gelten…

5. Was wird aus Prüfungen an der Hochschule?

Hier bewegt anscheinend (noch?) nicht viel. Nach dem ersten Aufschrecken („Die Hausarbeit ist tot“) werden notwendige Anpassungen (Selbsständigkeitserklärungen, komplexe Fragestellungen, kontrollierte Settings etc.) diskutiert. Es herrscht eher die Tendenz vor, herkömmliche Prüfungen zu retten, anstatt des erhofften grundsätzlichen Überdenkens der Prüfungen. Richtig traurig ist, dass dies mit überwiegend administrativ-juristisch-ökonomischen Argumenten geschieht, während Einigkeit darüber herrscht, dass eigentlich die dominierende Prüfungskultur auf den Prüfstand müsste. Ausgang noch offen.1 ,2

6. Was ist mit den negativen Auswirkungen?

KI und ChatGPT ist eher eine Projektionsfläche für, als die Ursache des digitalen Unbehagens. Die dystopischen Topoi richten sich wieder einmal auf Erosion des Wissenschaftssystems, Entwertung des Wissenschaftsberufs, Verlust gesellschaftlicher Bindungen und Teilhabe sowie das sog. De-Skilling der Studierenden. Die Verschärfung des globalen und lokalen Digital Divides steht zu befürchten. Hinzu kommt, dass die privatwirtschaftliche, solutionistische Ausrichtung der mächtigen Player auch KI anfällig macht für psychopathische Akteur:innen, lange bevor eine Mega-KI die Weltherrschaft übernimmt.

7. Wo bleibt der Mensch?

Über die Frage, was KI für die Zukunft der Menschheit bedeutet, darf spekuliert werden, mehr können (und sollten) wir aber auch nicht machen. Stattdessen können wir den Blick auf die Gegenwart richten, in der die Menschen bereits aus dem Blickfeld verschwinden. Da sind die Clickworker im globalen Süden die KIs trainieren, diejenigen, die all die Ressourcen geschaffen haben, die von den Algorithmen ausgewertet werden und die Menge an Informatiker:innen, die entweder direkt oder indirekt zur Entstehung von ChatGPT beitragen. ChatGPT hat die Arbeits- und Schaffenskraft all dieser Menschen aufgesaugt und in den Händen eines Unternehmens gebündelt. Wenn wir uns dem gewahr bleiben, erkennen wir auch, dass die Maschine keine Menschen ersetzt, sondern Menschen auf zugespitzte, neue Art und Weise von uns und ihren Produkten entfremdet.

Fazit

Auch ChatGPT zeigt, wir groß die Lücke zwischen real stattfindender Disruption und einer eventuell stattfinden Innovation ist. Wir können die Herausforderung des Einsatzes von KI in der Hochschule nicht expansiv bewältigen, wenn wir den Kontext (Ziele, Politik, Kultur der Hochschulbildung) nicht berücksichtigen. Blicken wir kritisch auf die Gegenwart und optimistisch auf die Zukunft, sollten wir weiter darauf dringen, die relevanten Fragen zu stellen, den Kontext der Diskussion auszuweiten und Handlungsperspektiven, und deren Konsequenzen, benennen.

  1. Notabene I: Ich bin gespannt, wann sich herumspricht, dass die „mündliche Prüfung“ hinsichtlich der Gütekriterien höchst fragwürdig und – ordentlich durchgeführt – erheblichen Mehraufwand bedeutet. []
  2. Notabene II: Ich verstehe die, mit Verlaub, dämlichen Versuche a la „ChatGPT besteht XY-Klausur“ überhaupt nicht. Schließlich ist der Bot mit riesigen Mengen von Fachliteratur, Prüfungsfragen und vermutlich ganzen Testklausuren gefüttert worden. Warum wundert es dann, dass es richtige Lösungen auf Standardklausuren auswirft? []

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