Vier mal Humboldt

Teil 1: Der Universalhumboldt und Neuhumanist.

In diesen Monaten war oft die Sprache von der „Humboldt’schen Universitätskonzeption“. Anlass dafür war einerseits das 250. Jubiläum seines Geburtstages am 22.07.1767, ein weiterer Grund dürfte die virulente Diskussion um die Zukunft der Hochschulen sein, auch und gerade im Zusammenhang mit der Digitalisierung. Und wenn es in Deutschland um die Gestaltung von Hochschulen geht, ist Humboldt ’next Door‘. Außerdem beschäftigen wir uns im Zusammenhang mit einer Lehrveranstaltung in diesem Semester mit den ideengeschichtlichen Grundlagen der deutschen Universitäten. Und auch dort darf Humboldt natürlich nicht fehlen. Ich will ich versuchen, einige der Gedanken, die in diesem Zusammenhang auftauchen, hier in loser Folge festzuhalten. Im ersten Teil geht es um einen kleinen Überblick zur aktuellen Humboldt-Rezeption und das Neuhumanistische Bildungskonzept.

Der Universalhumboldt: Mit und gegen Humboldt für und gegen Innovation in der Hochschule?

Diejenigen, die sich auf Humboldt beziehen, machen das mit diversen Zielen: Heinz-Elmar TENORTH befindet als prinzipiell ungeklärt „ob (und wie) sich Humboldts Prinzipien aktualisieren lassen“ und kritisiert daher die Inanspruchnahme Humboldt’scher Argumentation in der aktuellen Diskussion scharf:

„Doch erneut [!] ist er primär nur Abwehrformel gegen alle Zugriffe, ob lokal, national oder europäisch. Der Mythos lebt.“ 

Manuel J. HARTUNG macht in Humboldt ebenfalls einen mentalen Bremsklotz der Veränderung aus und meint „der Aufbruch [zu einer neuen Universität] kann gelingen […] wenn man es schafft, den Hochschulmythos zurückzulassen.“ Josef JOFFE hingegen plädiert mit Bezug auf Humboldt für die Einführung eines Studium Generales in US-Prägung in Deutschland. Christoph MEINEL formuliert die These, dass mit Hilfe der Digitalisierung das Humboldt’sche Bildungs- (und Universitäts-?)Ideal heute einlösbar wäre. Markus DEIMANN hält dem entgegen, dass dieser (MEINEL) damit der „Sinnentleerung des Bildungsbegriffs“ Vorschub leiste. In der Neuen Züricher Zeitung wurden die Gastkommentare von EULER und GSCHWEND sowie SEUFERT und VEY von der Redaktion mit der Feststellung eingeleitet, dass „die einen das Humboldt’sche Bildungideal wiederbeleben“ wollen, die anderen hingegen sich von den „digitalen Medien einen Innovationsschub“ erhoffen wobei unklar bleibt, wer hier wer sein soll. Der Name Wilhelm von Humboldt, soviel steht fest, scheint eine feste Orientierungsfunktion in der aktuellen Bildungsdebatte zu besitzen: Mit Humboldt für Innovation und Digitalisierung, für Innovation aber gegen Humboldt oder mit Humboldt gegen eine Reform der Universität. Humboldts Universitätsidee – sei es das historische Original oder dessen moderne Rekonstruktion – bildet eine feste Referenzgröße in der Hochschuldiskussion.

Der Universalhumboldt

Warum das so ist und warum bspw. Theoretiker und Reformatoren wie Niethammer und Schleiermacher weniger oft benannt werden liegt vermutlich an der dreifachen Rolle die W. v. Humboldt ausgefüllt hat:

  1. Er war Bildungstheoretiker des erwachenden Bürgertums (der historische Humboldt), 
  2. er war strategisch begabter, pragmatisch handelnder Bildungsreformer (der Bildungspolitiker und – stratege) und 
  3. er diente seit Beginn des 20. Jahrhundert als Schutzheiliger für eine spezifische Universitätskonzeption, wie sie insbesondere in Deutschland Erfolg hatte (die Konstruktion der „Humboldtschen Universitätsidee“). 

Vielleicht ist es diese Triade die Humboldt so zeitlos, universell und facettenreich referenzierbar macht. Alle drei Aspekte des Phänomens „Humboldt“ müssen aber in den Blick genommen werden, wenn man sich der Frage annähern will, was Humboldt uns heute bedeuten kann.

Der historische Humboldt, die neuhumanistische Bildungskonzeption

Die Bewegung der „jungen Menschen“ am Ende des Absolutismus: Neuhumanismus

Die Bildungsbewegung die sich zum Ausgang des 18. Jahrhunderts unter den „jungen Menschen“ (H. NOHL) der intellektuellen Elite in Deutschland entwickelte, verfolgte eine Neubestimmung des eigenen Standortes als „bürgerlicher Adel“ in einer Gesellschaft im Umbruch. Die Fahrt aufnehmende Industrialisierung, der allmähliche Aufstieg der Naturwissenschaften und die Inthronisation der Vernunft als Kriterium und Werkzeug der Wahrheitsfindung, bildeten den Hintergrund für einen neuen Bildungsbegriff, wie er durch Niethammer, Humboldt, Schleiermacher und anderen entwickelt und formuliert wurde und dessen Kernsatz lautete, Bildung sei die wahre Zweckbestimmung des Menschen.

Der Neuhumanismus war aber auch eine Antwort auf die entschlossene Reformpolitik der deutschen Fürsten und Könige. Die „Revolutionen von oben“ sollte zu einer umfassenden Modernisierung führen, den Wirtschaftsstandort sichern und die deutschen Staaten wettbewerbsfähig mit den internationalen Playern (allem voran England, Frankreich und USA) machen. Die Neuhumanistische Auffassung wollte hier gegensteuern und den wirkungsmächtigem rationalistisch-utiliaristischen Bildungsbegriff der Aufklärung um eine utopisch-humanistische Entwicklungsperspektive erweitern.

Der neuhumanistische Bildungsbegriff: Ganzheitlich, individuell, offen, prozessorientiert, weltzugewandt. 

 

Der historische Humboldt

Mit der neuhumanistischen Bildungskonzeption rückte der und die Einzelne als Subjekt der Bildung in den Vordergrund: „Die Vielfalt der Konkretisierung der Vernunft verweisen auf die Individualiät als allgemeiner Eigenschaft der Menschen“ (BLANKERTZ). Die Stossrichtung dieses Bildungsbegriffs richtete sich einerseits gegen die utilaristische, begriffs- und vernunftfixierte Verwertungslogik des aufgeklärten Staates, grenzte sich aber auch vom abstrakt-formalen, religös verwurzelten Schulhumanismus des 18. Jahrhunderts ab. Bildung sollte sich sich nicht in der Zurichtung auf „berufliche Handlungsfähigkeit“ erschöpfen, sondern appellierte an die Rolle und Verantwortung der Einzelnen für den Fortschritt in Gesellschaft und Staat – an die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Entwicklung der individuellen Kräfte und Vermögen aller Menschen war das Ziel, was einschloss, dass auch im Bildungsgang zu Handwerker*in, Bergwerksingenieur*in oder Jurist*in das ganze Potential der Bildung in Anschlag gebracht werden sollte, um als Mensch und Bürger an der Verbesserung seiner selbst und der Menschheit mitwirken zu können. Es war in gewissem Sinne naheliegend, den Movens für den gesellschaftlichen Fortschritt in die Individuen zu verlagern angesichts der politischen Stagnation in Reich und Bund, in dem eine gesellschaftliche Umwälzung wie sie in England, Amerika und Frankreich in den zurückliegenden 100 Jahren stattgefunden hatte, nicht in Sicht war. Die „Trennung von Bildung und gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (BLANKERTZ) war jedoch auch dazu geeignet das Entstehen gesellschaftlicher Reformbewegungen zu hemmen. „Bildung“ im Neuhumanistischen Sinne war ein aus der Perspektive des Individuums zu denkender, unabschließbarer, offener, „unendlicher“ Prozess, dessen Inhalt alle denkbaren Gegenstände der Welt sein konnten und der dazu diente, die Entfaltung der individuellen „Kräfte und Vermögen“ zu ermöglichen. Damit war in Kauf genommen, das die Ergebnisse des Bildungsprozesses nicht vollständig vorhersagbar sind: Soll Bildung dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen, kann sie sich nicht darauf beschränken, dass Bestehende zu vermitteln, „so würde dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden“ (SCHLEIERMACHER zitiert in BENNER). In dieser Dialektik von „Bewahren“ und „Verbessern“ ist dami, so SCHLEIERMACHER auch „vielerlei Gefährliches“ eingeschlossen, schließlich weiß man nicht, ob der Jugend nicht einfällt „auf die gefährlichste Weise“ in das Bestehende einzugreifen.
Hinsichtlich der Art und Weise, wie Bildung statt finden soll formulierte wiederum HUMBOLDT ein modern anmutendes Programm von Bildung durch Auseinandersetzung mit der Welt; „diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“ (HUMBOLDT). Die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt ist der Anstoss zur Entwicklung „Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache.“ (Ebd.) Die Vielfalt der Gegenstände trifft auf die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten, die Gegenstände der Welt „bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne“ zu sehen. Dieses weltzugewandte, situierte und mutlimodale Bildungsprogramm wurde durch in den Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts nie realisiert, sie bildeten aber eine prominente Referenz für die Konzepte humaner Pädagogik der kommenden Jahrhunderte.

Neuhumansimus: Ehrwürdiges Ideal oder ein „außer Thesen nix gewesen“? 

„Digitaler Neuhumanismus“ klingt im Gegensatz zu „Digitaler Bildung“ ziemlich schräg. Das mag daran liegen, dass die Vorstellung, man könne 200 Jahre alte Bildungsideen aus dem originalen Kontext lösen und in den heutigen Kontext einsetzen ohne das sich deren Bedeutung grundlegend ändert einem lächerlich erscheint. Kernbegriffe wie „Mensch“, „Bildung“, „Vernunft“ und „Staat“ lassen sich nur noch rekonstruktiv und spekulativ in ihrer gemeinten Bedeutung erfassen. Man kann jedoch abklopfen, ob und wie die Prämissen, Kernkonzepte und Visionen der Neuhumanisten mit heutigem Bedeutungsvokabular reformulieren lassen und heuristisch prüfen, ob solche Rekonstruktionen eingermaßen sinnvolle Aussagen erzeugen.
So scheint mir beispielsweise eine kollektiv getragene, wirkungsvolle Bewegung für Erneuerung der Bildung und der Bildungsinstitutionen heute nicht sichtbar – die Diskussionen und Handlungsstränge für eine  „andere Bildung“ scheinen eher multidimensional und pluralistisch bis widersprüchlich, auch in den Fachcommunities, den Publikationen und den Konferenzen.

Gefühlte Dringlichkeit oder nur „Revolution von Oben“?

Irgendwie scheint es so zu sein, dass zwar ein Gefühl der Dringlichkeit für grundlegende Reformen vorhanden ist, aber Was mit welchen Ziel verfolgt werden soll scheint schwer zu fassen. Als „Revolution von Oben“ wird die Digitalisierung der Bildung – durchaus verstanden als eine ganzheitliche, inhaltlich-didaktisch-technische Gestaltungsaufgabe – vorangetrieben, und noch nicht vorhandener Sinn wird mit Nachdruck hergestellt.

Ewige Baustelle Humboldt

Das beinhaltet aber die Gefahr, dass der Begriff „Digitalisierung“ eine bildungsbezogene Zielbestimmung in den Hintergrund drängt. Abstrakte bildungsbezogene Kriterien wie „Handlungsfähigkeit“, „Haltung und Wertorientierung“ oder „globale Verantwortung“ bedürfen einer Konkretisierung im Hinblick auf auf ihren Zweck: „Handlungsfähig werden um für soziale Gerechtigkeit einzutreten.“, „Haltung zeigen, um meine Interessen im Job zu wahren.“ sind Bildungsziele. Der historische Kniff von Humboldt war es, „Bildung“ als Ziel und Mittel der menschlichen Bestimmung zugleich zu setzen. Das war möglich aufgrund einer anthropologischen Diktums, das die abstrakte „Bildbarkeit“ und „Entfaltung aller Kräfte“ jenseits der konkreten Ausgestaltung als „wahre“ Zweckbestimmung des Menschen gesetzt werden konnte. Mit Digitalisierung klappt das aber nicht, sie kann Mittel sein aber sie kann nicht Ziel sein. Sonst verkümmern Bildungsziele zu einem „Add-On“ der Digitalisierung: Zwar werden sie für unverzichtbar erklärt, sie haben aber kein über die Digitlisierung hinausweisendes Ziel: „Digitale Handlungsfähigkeit“, „Haltung und Wertorientierung für die Gestaltung der digitalen Medien„, „Bewußtsein für die globalen Wirkungen medialen Handelns“ klingen zwar wie notwendige, bildungsgesättigte Zielformulierungen aber ihr Inhalt im Hinblick auf Bildungsziele tendiert gegen Null.

Die Frage „Wozu Digitalisierung?“ ist also keine Frage mürrischer Technologiehasser*innen sondern muss beantwortet werden, wenn die Begründung der Digitalisierung nicht „frei drehen“ soll. Ansätze dazu gibt es auch im Neuhumanismus, Ideen wie der Umgang mit Offenheit und Unbestimmtheit in der Bildung, die Situiertheit und Weltzugewandtheit des Lernens besitzen eine zeitlose Aktualität für neue Bildungsimpulse.

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