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Vor einigen Wochen schon wurde im Deutschlandfunk ein Essay von Robert Schurz zur Transformation des Bildungs- und Wissensbegriff im Internet-Zeitalter gesendet. Den Hinweis darauf hatte ich selber zugesendet bekommen und hatte an dem dichten, anregenden Beitrag wirklich Freude. Der Autor führt uns den sich umwälzenden Zusammenhang von Leitmedium und Wissensformen vor Augen und argumentiert dabei u.a. mit Foucault, Adorno, Deleuze und Guttari, Lévi-Strauss und „Frau Meier“. Am Beispiel des Spezialgebiets „Rotkehlchen“ macht Schurz plastisch, dass die „Internet-Bildung […] der Siegeszug der Marktwirtschaft gegenüber dem humanistischen Bildungsideal“ sei und führt weiter aus, wobei er lässigerweise „Demokratie“ und „Marktwirtschfaft“ gleichsetzt:
„Demokratisch ist das Internet-Wissen […] deshalb, weil praktisch jede Minderheit zu Wort kommt, sofern sie sich an bestimmte Rechtsnormen hält. Ein Lehrbuch hingegen ist hochselektiv: Es tradiert einerseits eine bestimmte kulturelle Ordnung und führt andererseits zu einer Systematik, die einer Logik folgt, welche man die abendländische genannt hat. Gemeint ist damit der hierarchische Wissensaufbau, der vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet.“
Allerdings – das machte den Beitrag für mich besonders interessant – führt diese Demokratisierung bei Schurz nicht zum Happy-End, denn mit veränderten Strukturen gehe einher, dass
„Ein seriell strukturiertes Wissen […] die Welt letztlich ohne Zusammenhang erscheinen [lässt]. Die Frage des Faust, die holistisch gestellt ist: Was nämlich die Welt im Innersten
zusammenhält, scheint überflüssig, wenn Information über Alles und Jedes beliebig vorhanden ist. Das Bedürfnis, die Kenntnis der Welt aus wenigen Prinzipien herleiten zu können, wird verschwinden.“
Die Menschen kämen damit in eine Situation, vergleichbar mit Wissens-„Bastlern“, die „das vorhandene Wissen so nehmen, wie es im Netz präsentiert ist“. An dieser Stelle drängten sich mir natürlich die Klagen (unter anderen) der Lehrenden an den Hochschulen ins Bewußtsein, dass die „Internet-Generation“ keinen adäquaten Umgang mit wissenschaftlichem Wissen mehr beherrsche. Schurz könnte hier als Zeuge herangezogen werden, wenn die Frage zur Verhandlung stehen würde, wer und
wie definiert, was „wissenschaftlich adäquates Wissen“ und ein entsprechender Umgang damit sei.
Damit aber nicht genug: Der Machtverlust hierarchich organisierter Wissensstrukturen führe eben auch zur Ohnmacht gegenüber den ‚zuhandenen‘ Wissensstrukturen, die nun durch Code und digitale Infrastrukturen bestimmt seien und man nehme „die Welt, wie sie in den mikroelektronischen Wissensformen repräsentiert ist, als gegeben hin.“
Die medialen Strukturen, so argumentiert Schurz in einer Weise, in der bei mir McLuhan, Baudrillard und symbolischer Interaktionismus plötzlich im Chor anklingen, verändern die „Weltsicht“ und damit „Selbstsicht“ und machen daher vor dem Subjekt nicht halt:
„Die Bildung aus dem Internet verändert den Weltzugang, die Weltsicht. Nun aber definiert jener Weltzugang auch ein bestimmtes Selbstkonzept. Das meint: Wir begreifen uns selbst immer nur in Bezug auf die Umwelt, die uns rückmeldet, wer und wie wir sind. Die Art und Weise nun, wie wir die Welt erfassen, bestimmt nun auch mit über unser Selbstbild. Das Internet als Weltzugang erzeugt dabei eine merkwürdigen Dialektik von Macht und Ohnmacht. Das klassisch-humanistische Bildungssubjekt bemächtigt sich der Welt: Je mehr es weiß, je gebildeter es ist, desto eher ist es in der Lage, seine Umwelt zu beherrschen, – die Natur und auch die soziale Umwelt.“
Mit der ubiquitären Verfügbarkeit von (potentiellem) Wissen aus dem Netz und der Auflösung der traditionellen Definition von wahrhaftigem Wissen aus den Strukturen (fach)wissenschaftlicher Kommunikation , könne nun jeder zum „Spezialisten“ werden, ein Spezialist jedoch, der dem Fachidioten näher stehe, als dem fachkompetent Handelnden:
„Das Bildungssubjekt scheint es angesichts der Überfülle des zerstreuten Wissens aufgegeben zu haben, des Ganzen mächtig zu werden, und begnügt sich mit Details. Aus der Perspektive des Humanismus hat es sich selbst entmündigt und sich zum Fachidioten degradiert, -zwar zu einem multiplen Fachidioten, aber eben zu einem, der jeweils nicht über den Tellerrand hinaus blicken kann.“
Hier trifft der Autor als „der Zeuge der Anklage“ gegen überkommene Wissensbegriffe offenbar aber wieder den humanistisch gestimmten Zeitkritiker in ihm: Ohne Zusamenhang geht es scheinbar nicht – vielleicht ist das ja die eigentliche Botschaft.
Bei allen Klagen liegt die scheinbare "Unfähigkeit" der sog. NetGeneration (die ja Schulmeister 2009 ehedem als Konstrukt entlarvte) jedoch wohl nicht am Workload oder der Inflation akademischer Basis-Abschlüsse. Die Herausforderung liegt bei den Lehrenden, die für Theorie begeistern können müssen. Es bleibt jedoch die Frage, ob dies nicht erst für ein MA-Studium von Relevanz ist. Denn die ketzerisch-pessimistische Frage sei erlaubt: Was will ein Unternehmen der freien Wirtschaft mit frei und holistisch denkenden MitarbeiterInnen.