Heute ein klassischer bildungsbürgerlicher Einstieg:
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
G. W. F. Hegel in der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, 1820
Zu diesem schönen klassischen Bild gibt es natürlich zahllose Interpretationen und Kritiken. Was Hegel damit wohl gemeint hat, hat er an anderen Stellen weitgehend selbst erklärt: Die alte, eulige Philosophie kann erst dann die Verhältnisse angemessen interpretieren, wenn diese bereits obsolet zu werden beginnen, wenn „die Gestalt des Lebens alt“ (reif) geworden ist. Das ist mehr als ein „hinterher ist man immer schlauer“. Es geht auch darum, dass wir Abstand gewinnen müssen, um das große Bild zu sehen, dass es Zeit braucht, die Einzelheiten wahrzunehmen, dass die Analyse dem Geschehen folgt. Also um all das, was wir bei AI/KI/ChatGPT gerade nicht erleben.
Was passiert da gerade eigentlich?
Was in den letzten Wochen in Sachen ChatGPT, AI/KI, Large Language Models etc. geschehen ist, raubt mir den Atem. Mich machen weniger die erstaunlichen Fähigkeiten der neuen AI-Generation schwindelig, sondern die rasante Geschwindigkeit, in der sich die Diskussion in der Hochschul-Community entwickelt hat. Es scheint, als wurde die gesamte Lernkurve, die eine Technologieaneignung aufweisen kann, im Eiltempo absolviert. Man könnte sagen, die Hochschulcommunity hat seit letzten Dezember alle Stadien der Medienkompetenzentwicklung durchlaufen, die da lauten a) Verstehen, b) Anwenden, c) Kritik. Und auch die Rahmenbedingungen sind abgesteckt. Rechtsfragen, Ressourcen, Lehr-Methoden, Organisationsentwicklung, Werte – zu allen Aspekten sind die entscheidenden Fragen gestellt und die Anforderungen formuliert. Ebenso ist der Einsatz des Chatbots zur Förderung des kritischen Denkens bereits (konzeptionell) eingetütet und die notwendig neuen Formen der Organisation Hochschule sind ebenfalls in Thesenform vorhanden. Ich fühle mich davon, gelinde gesagt, herausgefordert und frage mich, was geschieht da eigentlich gerade? Bislang bin ich etwas ratlos. Es wächst der Eindruck, dass hier und jetzt etwas unglaublich Wichtiges geschieht. Doch beim Versuch, dieses Geschehen zu erfassen, fühle ich mich, als würde ich aus dem fahrenden ICE heraus den Namen der Station lesen wollen, durch die der Zug gerade rast.
Handlungsdruck kollektiv
Auf uns lastet anscheinend ein gigantischer Handlungsdruck. Verstehen und Gestalten können nicht mehr hintereinander stattfinden, sondern müssen gleichzeitig geschehen, um Schritt zu halten. Das mag an sich nicht schlecht sein, denn Gestalten kann ein gutes Mittel sein, um besser zu begreifen. Und im Unterschied zum Großphilosophen Hegel sehen wir wohl weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, die ganze Wirklichkeit in ein vollständiges, letztgültig wahres System zu packen. „Rough consensus and running code“ ist eher der Modus, in dem wir uns auf stabile Systeme zubewegen. Das führt aber leider auch dazu, dass jede neue Wendung technologischer Entwicklung, gesellschaftlicher Diskussion (AI-Moratorium, Ethikrat ) und Regulierung (Italien) die Anforderung stellt, uns neu zu justieren. Die Wirklichkeit neigt dazu, sich einfach weiterzuentwickeln, sie ist zwar menschengemacht, aber trotzdem dem menschlichen Denken nicht ohne weiteres zugänglich.
(Akademische) Kultur ist „nicht abstrakt gegeben, sondern hervorgebracht in den multiplen Situationen, in denen wir leben und handeln. Kultur wird in diesen Momenten zwar greifbar, aber wir begreifen sie nicht sofort. Wir brauchen eine Distanzierung oder eine Verfremdung, um ein Bewusstsein von ihr zu entwickeln.“
Langemeyer, Schraube & Tremp, 2022, S. 10
Für das pädagogische Denken ist das abscheulich, denn das sorgfältige Design und die Feinabstimmung des Learning Environments ist seine Handlungsmaxime. Wir handeln in Begriffen in Abwesenheit einer entwickelten Realität, wir versuchen die Anwendung der Technologie zu antizipieren und zu planen, noch ohne sie genau zu kennen. Damit das gelingt, brauchen wir wenigstens ein paar grundlegende „Denkregeln“. Das Interessante ist, dass wir einerseits in Zeiten der Vorläufigkeit und Unvorhersehbarkeit leben, dass sich die Denk- und Handlungsmuster aber überaus stabil und unbewegt zeigen.
Starre Verlaufsmuster in bewegten Zeiten
Ein exemplarisches Stück ist für mich der LinkedIn-Thread der sich aufgrund eines Beitrags von Andreas Wittke entwickelt hatte. Darin enthalten sind alle Elemente dieses Musters, dass mich aufmerken lässt, und das scheinbar universell ist. Im Hinterkopf das „Fenn-Diagramm“ aka „Hype-Cycle“, lässt sich dieser Verlauf weiter ausdifferenzieren.
- Die Veränderungsanforderung baut sich in Sichtweite auf, als Bedrohung, Potential oder Lerngegenstand – je nach Standpunkt. Die Expert*innen, Visionär*innen und Mahner*innen sind aber schon an der Sache dran. Es wird schon gewerkt.
- Der Kipppunkt wird erreicht an dem sich die Veränderung exponentiell entwickelt. An diesem Punkt kann es kaum noch ignoriert werden und kommt massenweise in Anwendung, der iPhone-Moment der KI. Es wirkt allgegenwärtig. Disruption, emergierende Eigenschaften. Die Veränderung tritt gefühlt ungesteuert und anarchisch ein.
- Es entstehen viele unterschiedliche Geschwindigkeiten, wer zuerst „Disruption“ („Alles wird anders“) oder „Dystopie“ („Untergang der Menschheit„) sagt (oder so etwas Ähnliches), hat gewonnen.
- Alle sagen im Chor, dass jetzt wirklich etwas anders werden muss. Der Chor verstärkt sich selber, daher ist die Veränderung jetzt auch nicht mehr wegzudiskutieren. Jetzt muss aber wirklich etwas anders werden!
- Die mühseligen Ebenen geraten ebenfalls in Bewegung. Organisationen und Institutionen lassen sich aber nicht so schnell verändern, wie es dringlich scheint. Es sind viele Fragen zu beantworten: Was soll jetzt noch mal, wie genau verändert werden? Welche Kosten, wieviele Stellen? Wer entscheidet das?
- Es findet eine Adaption an die neue Situation statt. Gemäß den Regeln der Assimilation wird die Adaption aber nur so weit stattfinden, bis wieder ein Gleichgewicht erreicht ist. Es ist daher eher unwahrscheinlich, das sich etwas grundsätzlich ändert. Es ist eher ein tastendes Nachjustieren von Verhalten und Einstellungen, bis die Situation wieder handhabbar erscheint.
Schließlich ist das disruptiv Neue eingetaktet. Irgendwie wurde die neue Situation bewältigt, vieles läuft schlechter, holpriger und kritischer, vielleicht einiges auch besser. Im Großen und Ganzen geht es aber wie gehabt weiter. Kennt man dieses Muster, dann sind schon am Kipppunkt die letzen Stufen in Sicht, die meist mit einem vergleichsweise minimalen Fortschritt enden. Das fühlt sich nicht nach Umbruch an, eher nach der „Schland-Kurve pädagogischer Innovation in der Hochschule“.
Allerdings ist das Verlaufsmuster ja kein Naturgesetz. Was dabei fehlt, wäre z.B. uns selber als Akteur*innen in die Kalkulation einzubeziehen und auszumachen, wie weit wir selber in unseren Denk- und Handlungsmustern befangen sind und wie diese wirken. Das ist die Botschaft des Minerva-Gleichnis: Wir sollen das gesamte Geschehen in den Blick nehmen, einschließlich unserer eigenen Handlungen und Position darin. Und das fällt in der Regel leichter, wenn die Wahrnehmung nicht an Details kleben bleibt („Grau in Grau“). Was zwangsläufig aus einer solchen Betrachtung folgen müsste, wäre meines Erachtens nach ein „Lernen“, dass über eine bildungspolitische, curriculare und didaktisch-methodische Bewältigung der neuen Situation hinausgeht. Isabelle Buck und Anika Limburg haben das jüngst schön auf den Punkt gebracht:
„So oft die Idee des lebenslangen Lernens schon angeführt und im Sinne einer wohlklingenden Phrase als schmückendes Beiwerk verwendet wurde, so dringlich ist angesichts der rapiden technologischen Entwicklung nun ihre konsequente Umsetzung. Die Gruppe der Lernenden umfasst damit endgültig nicht mehr nur Studierende, sondern konsequent alle Hochschulangehörigen.“
Buck und Limburg, 2023, S. 81