Was zunächst wie ein Witz klang…

Im ersten Moment habe ich gedacht: „Ach du je… Klausur-Schummel als Top-Meldung?“ Von „mehreren“ (sic!) Schülern wurde berichtet? Und – oh je – beim Abi! Aber: Mit KI!! „Ein Schüler auf frischer Tat beim Schummeln ertappt“ – Schlagzeilen für ZDF und Tagesschau? „Lehrkräften sind Unregelmäßigkeiten in Klausuren aufgefallen“ – ein Fall für die Schulbehörde?

Hier die einschlägigen MItteilungen:

Verdachtsfälle in Hamburg : Abi-Prüfung: Schüler schummelten wohl mit KI […] Lehrkräften in Hamburg sind beim Korrigieren der Abiturprüfungen Unregelmäßigkeiten aufgefallen. […] Ein Schüler auf frischer Tat ertappt.

26.05.2023 – Abi-Prüfungen in Hamburg: Schüler schummelten wohl mit KI – ZDFheute

Abitur-Schummel mit KI in Hamburg: Jetzt melden 20 Schulen Verdachtsfälle […] Schulen haben einzelne Verdachtsfälle im Rahmen der schriftlichen Abiturprüfungen gemeldet […] Die Lehrkräfte hätten berichtet, dass ihnen Unregelmäßigkeiten während der Korrekturen der Klausuren aufgefallen seien

27.05.2023 – Abitur-Schummel mit KI in Hamburg: Jetzt melden 20 Schulen Verdachtsfälle – Hamburger Abendblatt

Schulen setzten daraufhin eine Software ein, die überprüft, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Text von einer KI erstellt wurde. Das Ergebnis: Wahrscheinlich wurde geschummelt.

27.05.2023 – Abitur in Hamburg: Künstliche Intelligenz zum Schummeln genutzt | tagesschau.de

… entwickelt sich zu einer Debatte….

Dass es diese Information bis in die deutschen Leitmedien geschafft hat, erschien mir zunächst… ja, was? „KI-Gaga“? Und nun hat sich gleichzeitig (deswegen?) eine kleine Debatte entwickelt.

„Ich glaube, dass die schnelle Entwicklung der KI uns kein langsames Weiterentwickeln der Leistungsbewertung erlaubt. Wir müssen einsehen, dass unser Leistungssystem oldschool ist“, meinte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann […] Man müsse „Schule neu denken“.

27.052023 – Wegen ChatGPT und Co: BLLV-Präsidentin fordert neues Leistungssystem – ohne Noten | News4teachers

VDR-Bundesvorsitzende Jürgen Böhm: „Nur, weil bei Prüfungen in Hamburg digitale Endgeräte nicht überprüft wurden, sollen Noten abgeschafft werden?“

29.05.2023 – Erzwingt ChatGPT eine neue Leistungsbewertung in Schulen? Debatte kocht hoch | News4teachers

In der Debatte um die Reform des klassischen Notensystems warnt der bayerische Philologenverband vor allzu schnellen Schlussfolgerungen wie der – vom BLLV geforderten – Abschaffung von Noten. […] Eine Leistungsbewertung nur mit Blick auf die Prozesse und nicht auch auf die Ergebnisse von Lernen und Kompetenzerwerb geht an der Realität vorbei, in der es eben auch auf das ‚Endprodukt‘ ankommt.

31.05.2023 – Debatte um KI: Philologenverband lehnt Forderung nach Abschaffung von Noten ab | News4teachers

…die ein Problem zeigt, dass tiefer geht als gedacht und gesagt.

Wie sich herausstellt, geht das Problem tiefer, als gedacht. Während die Debatte um „Abschaffung der Noten“ und „Schule neu denken“ kreist, zeigt sie auf, wie ChatGPT dabei ist, eine DNA des tradierten Prüfungssystems zu zersetzen. Aus der Perspektive des Bestehenden formuliert, lässt sich folgende Wirkungskette rekonstruieren:

1) Technologie dekontextualisiert

  • GPT-Systeme werden an bestehenden Texten trainiert und erlernen die Muster dieser Texte und Textsorten. Beim Generieren neuer Texte anhand der gelernten Muster geht der ursprüngliche Kontext verloren. Die Text-KI kann keinen Zusammenhang mit den Trainingsdaten mehr herstellen.

2) Autor*nnenschaft verschwimmt

  • Mit der Technologie verbunden ist die juristische Frage der Autor*innen- bzw. Urheber*innenschaft. Das hat zwei Seiten: Die Frage der Vewertungsrechte der Trainingsdaten und die Seite der Urheberschaft der durch Nutzer*innen generierten Texte.

2.1) Verwertungsrecht der Trainingsdaten

  • Auf der der Systemseite die Frage, ob durch die Dekontextualisierung auch die ans „Werk“ gebundenen Autor*innenrechte obsolet sind, was augenblicklich vor allem in der Kunst– und Musikszene stark diskutiert wird. Müssten die Lieferanten der Trainingsdaten nicht entsprechend wertgeschätzt werden? Was ist, wenn das neu generierte Artefakt Stil und Ton der Urheber*innen frisch synthetisiert und diesen zum Verwechseln ähnelt?

2.2) Urheberschaft der enstandenen Texte

  • Auf der Nutzer*innenseite entsteht die Frage, ob der- oder diejenige, die den Text, mit Hilfe einer KI generiert, einen Urheber*innen-Status dafür haben. Dies ist der Hintergrund der Schwierigkeiten, den z.B. die Zeitschrift Nature hat, wie KI-generierte Texte ausgezeichnet werden sollen. Als Zitat geht nicht, weil dieses nicht reproduzierbar ist. Als von dem/der Autor*in eigenständig erbrachtes Werk im „alten“ Sinn eben auch nicht.

3) Prüfung: Individuelle Leistung unter kontrollierten Bedingungen

  • Die unklare Lage der Autor*innenschaft trifft auf unser Bildungssystems, in dem die Vergabe von Zertifikaten mit Prüfungen verknüpft sind. Die Prüfungslogik im engeren Sinn ist, dass dafür individuelle, messbare Leistungen unter kontrollierten Bedingungen erbracht werden müssen.

4) Täuschungsversuche

  • Spicken, Schummeln und Abschreiben (amtlich: „Täuschungsversuche“) in der Prüfung stellen den Verstoß gegen die vorgegebenen Prüfungsbedingungen dar. Das sind im Wesentlichen die berühmten „erlaubten Hilfsmittel“ (Handy in der Prüfung) und die „selbsständige Leistung“ (Abschreiben, Hilfestellung), die zu jedem Prüfungssetting gehören.

5) Nachweis der Täuschung

  • Die Problematik, die sich daraus ergibt, besteht nicht darin, dass Prüfungsleistung und Lernleistung nicht deckungsgleich sind. Das ist das didaktische Problem der Prüfungskultur. Sie besteht auch nicht darin, dass der „Täuschungsversuch“ nicht sanktioniert werden kann (das Handy in der Prüfung bleibt verboten), sondern dass es aus den unter 2.2 genannten Gründen nicht mehr gelingt, die erfolgreiche Täuschung im juristischen Sinne eindeutig nachzuweisen. Denn eine Textgleichheit – wie beim Plagiat – liegt nicht vor und eine Wahrscheinlichkeit reicht nicht aus.

Der Funfact ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihrerseits auf KI-Tools zurückgreifen, um den Nachweis der Täuschung zu führen. Allerdings, im Unterschied zum Plagiat oder Abschreiben, kann nur festgestellt werden, dass der Text mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit KI-gestützt entstanden ist, was aber der den juristischen Ansprüchen der Beweisführung nicht genügt. Schließlich könnten die Prüflinge die Inhalte ja Wort für Wort auswendig gelernt haben, was nicht nur nicht verboten ist, sondern auch mit der herrschenden Prüfungskultur im Einklang steht.

In gewissem Sinn wird hier und jetzt der Widerspruch zwischen digitaler Mediatisierung und dem Konstrukt der Urheberschaft wirkmächtig. Im digitalen Ozean, in dem Inhalte permanent (technisch) kopiert, verteilt, remixt und dekontextualisiert werden, steht der „Autor am Ende der Gutenberg-Galaxis“ (STALDER) auf verlorenem Posten. Die reflexhafte Forderung nach „klaren und rechtssicheren Regeln“((„Christian Gefert, der Vorsitzende der Vereinigung der Leitungen Hamburger Gymnasien und Studienseminare (VLHGS) […], der von der Behörde klare und rechtssichere Regeln für den Umgang mit KI an Schulen fordert.“)) klingt zwar logisch, macht aber keinen Sinn. Das bestehende Regelsystem (Prüfungsleistung, Hilfsmittel, Täuschungsversuch) ist ja in sich noch stimmig. Aber der Dreh- und Angelpunkt der juristisch definierten individuellen Autor*innenschaft ist der neuen Wirklichkeit nicht mehr angemessen.

1 thought on “CheatGPT, Abi-Schummel und das Problem der Autor*innenschaft

  1. Lieber Jörg, danke für die ebenso aktuelle wie tiefgründige und inspirierende Analyse. Ich bin mir sicher dass sich diese noch gewinnbringend erweitern lässt. Nicht so sicher bin ich mir ob wir mit unserer Dich sehr starren Bildungsinstitutionalisierung eine adäquate Weiterentwicklung bestehender Praxen auf den Weg bekommen – ohne diesen institutionellen Rahmen zu verlassen. Aber das wäre ja dann wieder im Sinne Deiner Argumentation 🤔

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