Technologie integrieren, Kompetenzkatalog erweitern und Prüfungen absichern

Als „beeindruckend, verstörend und beeindruckend verstörend.“  beschreiben Weßels, Mundorf & Wilder ihren Eindruck von ChatGPT, dem Weihnachtsgeschenk des Unternehmens openAI an die digitalaffine Welt. Die freie Verfügbarkeit zusammen mit der Geschwindigkeit und das coole Nutzerinterface haben zu einer Millionen Anmeldungen innerhalb der ersten Woche und viel Aufmerksamkeit geführt. Den Namen allein kann man sich auch auf der Zunge zergehen lassen: Der „Generative Pre-trained Transformer„. Wobei „Transformer“ leider nur der Name für ein Softwarekonzept ist, das sehr große Datenmengen auf deren inneren Zusammenhänge hin analysiert und daraus Muster generiert, anhand derer anschließend etwas sehr Ähnliches erzeugt werden kann. Ob diese Maschine eine „transformative“ Kraft entfalten wird, ist nun die Frage. Insgesamt zeigt sich die öffentliche Debatte zwar beeindruckt, bleibt aber bei näherer Betrachtung im gewohnten Reaktionsmuster, das sich mit „1) Technologie integrieren, 2) Kompetenzkatalog erweitern und 3) Prüfungen absichern“ zusammenfassen lässt.

Wir benötigen neue Lehr- und Lernsettings, die als zielführend und sinnstiftend empfunden werden.

Doris Weßels

1) Technologiegestütztes Schreiben als Bildungsinhalt integrieren

Als Bildungsinhalt sind digital unterstützte Schreibtechniken natürlich genauso relevant wie bisherige Techniken des Schreibens. Das folgt schlicht aus akademischer Arbeitsweise und entspricht dem Selbstverständnis der Wissenschaften, die Phänomene der Welt erforschen. Daher ist es weitgehender Konsens, dass es sich mit Verwendung von Schreibassistenten zum wissenschaftlichen Schreiben auseinanderzusetzen gilt. Geforscht und gestritten kann und wird über Wechselwirkungen von Medientechnologie und kognitiver Entwicklung bzw. Gewöhnung. Folgerichtig also die allgemeine Forderung, dass KI, AI, Sprachmodelle und Co nun auf ihren Bildungsgehalt hin geprüft und in die Curricula integriert werden müssen.

„ChatGPT & Co. sind Werkzeuge, die ab jetzt im Leben zur Verfügung stehen und nicht mehr verschwinden werden“ (Medien und Informatik – PHSZ. 26.12.2022)

„Mit Blick auf das Bildungssystem stellen sich die Expertinnen und Experten daher die Frage, wie man Werkzeuge wie ChatGPT besser in Unterricht und Lehre einbinden kann.“ (Belousova, 2022)

„Wie bei anderen technischen Entwicklungen gelte es auch in Hinblick auf ChatGPT, ‚die Potenziale und die pädagogische Perspektive für Schule und Unterricht im Blick zu behalten‘.“ (Söding und Vuillemin 2022)

„Wir benötigen daher neue Lehr- und Lernsettings, die als zielführend und sinnstiftend sowohl von Lehrenden wie auch Lernenden empfunden werden.“ (Weßels 2022)

„Sollten KI-gestützte Schreibwerkzeuge proaktiv im Sinne von Generatoren von Textentwürfen in der Lehre eingesetzt werden, um über die automatisierte Produktion von ersten Textentwürfen und die nachfolgende ‚manuelle‘ Optimierung der Texte letztlich qualitativ hochwertigere Arbeiten zu generieren? Aus unserer Sicht lautet die Antwort: Ja. Oder besser: Ja, aber.“ (Weßels et al. 2022)


Das gehört ab sofort in jedes Schul- und Universitätscurriculum.

Miriam Meckel

2) Dringend-zwingend-notwendige (Medien)Kompetenzen

Um als Bildungsinhalt für die Lehrenden und Institutionen handhabbar zu werden, ist es üblich geworden, diesen in Kompetenzen auszudifferenzieren. Hier spielen die Medienkompetenzmodelle hinein. Das Konstruktionsschema für diese Modelle ist meistens ähnlich, es geht eigentlich immer a) um die Funktion („Technologie verstehen“, „Medienkunde“), b) um Aspekte der individuellen Nutzung („Bedienen können“, „angemessen einsetzen“, „Mediengestaltung“) und c) um die Frage wie sich das Medium / die Technologie auf das Zusammenleben, die Gesellschaft auswirkt („gesellschaftliche Bedeutung / Konsequenzen“, „Medienkritik“). Damit lassen sich die „notwendigen“/“erforderlichen“ Kompetenzen, auf Seiten der Lernenden wie der Lehrenden, fix aufsummieren. Gleichzeitig unterstreicht auch diese Entwicklung einmal mehr die Erkenntnis, das reproduktives Wissen an Bedeutung verliert.

„Wie bei Referaten müssten Lehrkräfte künftig mehr mit ihren Schülern sprechen: nach den Quellen fragen, die sie benutzt haben, und in einen so genannten metakognitiven Dialogeintreten.“ (Füller 2022 – paywall)

„Dazu gehört das Verständnis darüber, wie solche generativen KI-Systeme funktionieren. Das gehört ab sofort in jedes Schul- und Universitätscurriculum. Wir müssen auch neu lernen zu lernen und dafür menschliche und Künstliche Intelligenz als Partner begreifen.“ (Meckel 2022)

„Um die Potenziale und die Grenzen von KI-Sprachgeneratoren besser abschätzen und die Systeme effektiv und effizient nutzen zu können, ist ein grundlegendes Verständnis ihrer Funktionsweise notwendig. […] …notwendig, dass sich Schülerinnen und Schüler mit gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten dieser Technologie auseinandersetzen. […] Um KI-Sprachgeneratoren im Alltag nutzen zu können, sind – wie bei allen (digitalen) Werkzeugen und Medien – gewisse Anwendungskompetenzen notwendig.“ (Medien und Informatik – PHSZ. 26.12.2022)

„Deshalb brauchen wir dringend eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit diesen technischen Möglichkeiten umgehen wollen, fordert Gerhard Lauer.“ (Schnabel, 2022- paywall)

„Zu nennen wären hier z. B. die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten, Textmusterwissen etc., insbesondere aber analytisches und kritisches Denken, um automatisierte Produkte zu bewerten und ihre Nutzung zu steuern.“ (Weßels et al. 2022)

„Lehrkräfte müssen sich fit machen im Umgang mit den veränderten Möglichkeiten und Schülern beibringen, sie sinnvoll einzusetzen. […] Max Deisenhofer: Wir brauchen an den Schulen mehr Anwendungskompetenz und weniger abrufbares Wissen.“ (Ritschel, 2022)


Die KI mache viele Prüfungsformen ab heute undenkbar.

Robert Lepenies

3) Studienleistung Textproduktion („selbstständig“)

Dort wo Bildungsinhalte und Kompetenzen zu einem Prüfungsinhalt werden, wird die Frage wichtig, welche individuelle Kompetenz genau geprüft werden kann und soll. Das betrifft auch im Fall von Textassistenten die, letztlich juristische, Frage der Autor*innenschaft und der erlaubten Hilfsmittel. Hier hat die Digitalisierung zwei Dingen Vorschub geleistet: Zum einen das Plagiieren von im Netz verfügbaren Texten (eher: „Copyandpastisierung“) aber auch das plattformbasierte professionelle Ghostwriting. Beides sind Phänomene, die ohne Internet so kaum denkbar gewesen sind. Die klassische schriftliche Arbeit ist jedenfalls durch die neue Qualität der Textassistenten gehörig unter Druck geraten.

„Dass durch immer perfekter werdende Künstliche Intelligenzen Leistungsnachweise an Schulen ad absurdum geführt werden, glaubt Schreiner nicht. Noch könne jede Deutschlehrkraft das Werk eines Sprachbots „problemlos“ von dem eines echten Schülers unterscheiden.“ (Ritschel 2022)

„Der traditionelle Essay in Schule und Universität ist damit tot. Der Typ Essay also, der auf langweiligen, stereotypen Fragestellungen von Lehrern basiert, die keine Lust haben, sich anzustrengen. Auf solch ein Verhalten reagiert ChatGPT ebenso allergisch wie der Mensch: Der Bot produziert generische, nichtssagende Texte.“ (Meckel 2022)

„Dennoch gibt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, zu verstehen: ‚Sorgen macht uns als Lehrerverband ChatGPT nicht.‘ Denn Schülerinnen und Schüler hätten schon lange die Möglichkeit, bei Aufgaben, Übersetzungen, Aufsätzen oder Hausaufgaben, sich Hilfen von außen aus dem Internet zu holen.“  (Belousova 2022)

„Auch Hausarbeiten an Hochschulen sind im bisherigen Format kaum mehrhaltbar: Stellen sich Studierende halbwegs geschickt an, schreibt ihnen ChatGPT einen ersten Entwurf inklusive Fußnoten, der sich zu einer abgabefähigen Arbeit redigieren lässt. […] Doris Weßels, erteilte der alten Hausarbeit eine Absage. ‚Wenn es nur darum geht, Wissen zu reproduzieren und nett neu zu verpacken, ergeben Hausarbeiten keinen Sinn mehr.‘ Das neue, leicht zugängliche Tool ChatGPT mache das Verfassen derartiger Arten von Hausarbeiten fast ‚zu einer unerträglichen Leichtigkeit‘.“ (Füller 2022)

„Gewisse Prüfungsformate sind künftig anfällig für Betrug […] Plagiatserkennungssoftware verliert massiv an Bedeutung […] Mündliche Prüfungen sind eine mögliche Maßnahme gegen Betrug mit ChatGPT & Co.“ (Medien und Informatik – PHSZ 2022

“ ‚Ziemlich revolutionär‘, sagt der Hochschulpräsident: ‚Grundlegend kann kein studentischer Essay auf Bachelor- oder Masterniveau mehr von einer maschinell erstellten Arbeit unterschieden werden.‘ […] Ähnlich sieht es Robert Lepenies, […]. Die KI mache ‚viele Prüfungsformen ab heute undenkbar‘, schreibt Lepenies in einem langen Twitter-Beitrag. Die maschinell erzeugten Texte seien ‚qualitativ in den Sozialwissenschaften nicht unterscheidbar von der Arbeit der Studierenden‘. Entsprechende Tests an seiner Hochschule hätten gezeigt: ‚Unsere Profs erkennen den Unterschied nicht.’“ (Schnabel 2022 – paywall)


Aus der bisherigen Blackbox KI wird ein nahbares Gegenüber.

Ulrich Schnabel

Was ist also neu?

Wie dem obigen Text eventuell anzumerken ist, fällt es mir inzwischen einigermaßen schwer, aufgrund eines Technologiesprungs meinen Glauben zu nähren, dass nun grundsätzliche Veränderungen an Hochschulen und Schulen in Gang gesetzt werden oder auch nur leichter fallen würden. Die Erkenntnis, dass wir „…grundsanierte neue Lehr- und Lernsettings [benötigen] und […] insbesondere unsere Lehr-, Lern- und Prüfungskultur an deutschen Schulen wie auch Hochschulen überdenken [müssen].“ (Weßels, Mundorf & Wilder 2022) erscheint mir jedenfalls nicht neu. Ich habe immer öfter den Eindruck, dass die schematisch geführten Diskussionen an den Phänomenen irgendwie vorbeigehen. Die Reaktionen sind weitgehend austauschbar mit den Reaktionen auf, sagen wir: Google, YouTube oder das Metaverse. Es wird dann bald eine „didaktische Taxonomie zum Einsatz von Sprachassistenten in der Hochschullehre“ geben, gefolgt von Untersuchungen zu den „Motivationalen Wirkungen von Sprachassistenten auf die studentische Textproduktion“. Der vielleicht heilsame technologische Schock wird pädagogisch-didaktisch kleingearbeitet. Das mag notwendig sein, wird sich aber in dieser Form in den Mühen der Ebene verlieren. In den letzten Tagen waren denn auch schon Bemühungen sichtbar, ChatGPT zu „entmystifizieren“. Was offenbar übrig bleibt, ist die neue Nutzungserfahrung:

„Der Hype um ChatGPT markiert auch eine Zäsur in der KI-Debatte selbst, denn jetzt ist für alle Nutzer die ganze Wucht der Veränderung individuell erfahrbar. Während die Möglichkeiten der KI bisher für die meisten Menschen nur lesend oder nachdenkend (und oft nur in Ansätzen) verstehbar waren, kann jeder sie nun selbst erproben, damit interagieren und mit ihr spielen. Aus der bisherigen Blackbox ‚KI‘ wird ein nahbares Gegenüber, mit dem man plötzlich intime Gespräche führen kann.“ (Schnabel, 2022 – paywall)

Dies rekurriert auf zwei Kernpunkte, die vielleicht dem näher kommen, was wir als neue Qualität erleben werden.

  • Die bislang nicht gekannte Qualität mit der vorhandenes Wissen kombiniert und natursprachlich ausgegeben wird stellt eine Entwicklungssprung dar. Das macht den Chatbot flexibel und lädt zum Spielen ein. Es ist die komfortable Verlängerung der Suchmaschine und die Erweiterung der Typografie um die audible Welt, weil nun auch direkte Sprachein- und -ausgabe vor der Tür liegt. Die Verbindung mit dem aktuellen Internet wird vermutlich eine der kommenden Anwendungen (die Verbindung von ChatGPT und Bing wurde schon kolportiert). Damit tritt an die Stelle der eigenen Auswertung von Seiten, die uns die Suche bislang auswirft, der Algorithmus. Problem: Die Herkunft der Information kann dann nicht mehr nachvollzogen werden. Referenzen und Quellen lassen sich so nicht mehr darstellen und eine große Menge Text die referenziert werden kann wird wiederum durch KIs generiert worden sein. Hier erodieren ganze Wissensmodelle.
  • Zu sprechen wäre auch vom Geschäftsmodell, mit dem OpenAI (hinter welchem u.a. Elon M. und Microsoft stehen) seinen Chatbot vermarktet (vgl. „gesellschaftliche Wirkungen“!). Das nicht unwesentliche Merkmal, dass ChatGPT zurzeit frei zugänglich ist und offenbar mit so viel Rechenpower versorgt wird, dass die Nutzung Spaß macht, hat auch in diesem Fall keine altruistischen Gründe. Die KI hat damit eine Schnittstelle zur biologischen Intelligenz in der realen Welt und wird damit weiter trainiert, was die Qualität der Antworten und damit den Wert der Maschine erhöht. Die Erwartung ist, dass OpenAI mit ChatGPT-Technologie in naher Zukunft eine Milliarde Dollar Umsatz erzielen wird. Der gänzlich freie Zugang wird wohl bald beschränkt werden oder mit nervender Dauerwerbung durchsetzt werden. Ein Vorgeschmack mag die Installation der iOS-App geben, die bereits mit Preisschild versehen ist.

Ich denke, wir können uns eine längere Spielphase gönnen, um mehr zu lernen, wie sich die Textassistenten auf die Hochschullehre auswirken können. Nele Hirsch hat damit ein tolles kleines Experiment gestartet und Christian Spannagel hat zum Ausprobieren und Austauschen eingeladen. Vielleicht liegt hier doch eine kleine Chance, einen Raum für neue praktische und theoretische Herangehensweisen zu öffnen.


Referenzen & Links

Belousova, K. (2022) Chance oder Gefahr? Was Schulen und Unis zu ChatGPT sagenzdf.de. Available at: https://www.zdf.de/uri/8b0b4e18-a8de-49eb-af65-41822f66bf5e (Accessed: 29 December 2022).

Füller, C. (2022) ‘Textgenerator krempelt das Lernen um’, Potsdamer Neueste Nachrichten, 22 December, p. 17. Also: https://www.tagesspiegel.de/wissen/textgenerator-krempelt-das-lernen-um-ein-smarter-chatbot-spaltet-die-bildungswelt-9073369.html (Paywall)

Greg Brockman [@gdb] (2022) ‘ChatGPT just crossed 1 million users; it’s been 5 days since launch.’, Twitter. Available at: https://twitter.com/gdb/status/1599683104142430208 (Accessed: 30 December 2022).

Meckel, M. (2022) Die neue Dimension des DenkensHandelsblatt.com. Available at: https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/kreative-zerstoerung/kolumne-kreative-zerstoerung-die-neue-dimension-des-denkens/28878122.html (Accessed: 30 December 2022).

Medien und Informatik – PHSZ (2022) ChatGPT & SchuleMedien und Informatik – pädagogische hochschule schwyz. Available at: https://mia.phsz.ch/MIA/ChatGPT (Accessed: 30 December 2022).

Ritschel, S. (2022) ‘KI in der Schule Chance oder Gefahr’, Bayerische Rundschau, 27 December, p. 17. Auch: https://www.mainpost.de/ueberregional/bayern/digitale-bildung-kuenstliche-intelligenz-chatgpt-chance-oder-gefahr-fuer-schule-und-lehre-art-11001588 (Paywall)

Schnabel, U. (2022) ‘Das kann sie auch’, DIE ZEIT, (52), p. 35. Auch: https://www.zeit.de/2022/52/kuenstliche-intelligenz-textgenerierung-chatgpt (Paywall)

Söding, T. and Vuillemin, C. (2022) ‘Gedichtanalyse Goethe Enter’, taz. die tageszeitung, 21 December, p. 7. Auch: https://taz.de/Kuenstliche-Intelligenz-von-ChatGPT/!5900775/

Weßels, D. (2022) ChatGPT – ein Meilenstein der KI-EntwicklungForschung & Lehre. Available at: https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/chatgpt-ein-meilenstein-der-ki-entwicklung-5271 (Accessed: 28 December 2022).

Weßels, D., Mundorf, M. and Wilder, N. (2022) ChatGPT ist erst der AnfangHochschulforum Digitalisierung – Hochschulbildung im digitalen Zeitalter. Available at: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/ChatGPT-erst-der-anfang (Accessed: 30 December 2022).

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